Auf der Suche nach der Metapher für das Anthropozän. Eine Neuinterpretation des Mythos von Ödipus

Abstract

Das Anthropozän ist ein Menschenzeitalter, ein Stichwort, das das Bewusstsein für eine drohende Umweltkatastrophe weckt. Die Einstellung des Menschen zur Natur ist zu einem Hauptproblem geworden, dessen Lösung über das Fortleben der menschlichen Spezies entscheiden wird. Es schien, dass wir als Menschheit über unbegrenzte Macht und wissenschaftliche und technische Möglichkeiten verfügen, um die Erde zu verwalten. Heute ist es dringend notwendig geworden, unsere Aktivitäten zu ändern, die vor allem auf despotisches Wachstum ausgerichtet sind – hauptsächlich auf wirtschaftliches Wachstum. Das Problem des Klimaschu-tzes erfordert rasches Handeln. Es erfordert einen Bewusstseinswandel. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die tatsächliche Bedrohung erweisen sich jedoch als wirkungslos, wenn es darum geht, die extrem wirksame Menschheit aus Marasmus und Leugnung zu wecken. Daher braucht es eine Metapher, die die Transformation von Wissen und Werten zu einem solchen Wissen bildhaft macht, das zur Bewältigung der Klimakrise wirksamer anregen wird. Ich fand den von Sophokles erzählten Mythos von Ödipus eine hinreichend vertraute und gleichzeitig motivierende Metapher für das Anthropozän. Um den Mythos neu zu interpretieren, griff ich auf die Idee von Paul Ricoeurs zurück, das Wesen der Tragödie einzufangen und die Augen dafür zu öffnen. Ich nutzte die Suche von Claude Levi-Strauss nach universellen Denkprinzipien und menschlicher Erfahrung im Mythos. Ich bediente mich Michel Foucaults These vom Überschuss des Wissens und der Macht in der Figur von Ödipus. Ich verlagerte die Aufmerksamkeit von den Ereignissen in Theben auf die Ereignisse in Kolonos. Der von Ödipus zurückgelegte Lebensweg deutet auf den Wandel hin, den er auf der Suche nach dem neuen Wissen vollzogen hat, das notwendig war, um die Macht zurückzugewinnen und die Haltung des Opfers seiner eigenen Handlungen zu überwinden. Ich schlug vor, das Tabu von Vaterschaftsmord und Inzest nicht als Verbot sondern als Rat und als Weg zur Degradierung und Transformation von „Ego“ in „Eco“, Egozentrismus in Ökozentrismus, zu lesen. In Kolonos haben spirituelle Stärke und neues Wissen von Ödipus den Schutz und die Sicherheit den Bewohnern von Athen gewährleistet. Die vorgeschlagene Metapher für das Anthropozän könnte die Wiedererlangung des „Sinns für das Tragische“ fördern, und dieser würde den „Anthropozänern“ Metanoia, den Wandel des Denkens und eine neue Kraft ermöglichen.